WAS IST MÄNNERGESUNDHEIT? Was sagen uns die Männergesundheitsberichte? Wie sehen die Gesundheitsangebote für den Mann in der Zukunft aus?

ANDROTROPIE

2003 stellte Prof. Dr. Hans-Uwe Eickenberg, Urologe in Bielefeld, Deutschland, die Frage, warum Männer früher sterben (Blickpunkt der Mann 2003; 1(1):7–13). Die um durchschnittlich sieben Jahre geringere Lebenserwartung der Männer wird ebenso wie die Tatsache, dass Männer auch vorrangig von allen 16 Todesursachen (Tab. 1) betroffen sind, als Androtropie bezeichnet. Die Ursache für dieses Phänomen erklärte Eickenberg mit biologischen und genetischen Faktoren sowie gesellschaftlichen Veränderungen wie der Industrialisierung. In seiner Arbeit beschreibt Eickenberg die Männer auch als „Wegwerf-Geschlecht“ (Tab. 2) und kritisiert die Vernachlässigung des Mannes in der medizinischen Forschung. So waren nur 5% des Etats des National Health Institute für die Forschung zur Gesundheit des Mannes vorgesehen, gegenüber 15% für die der Frau. Eickenberg rechnete auch vor, dass 660% mehr Gelder für die Erforschung des Brustkrebses eingesetzt werden als zur Erforschung des Prostatakrebses, und dass damit das Verhältnis Todesrate zu Forschungsmittel 47 : 1 zu Gunsten der Frau liegt.
Aber nicht nur Eickenberg beschäftigte sich mit der Benachteiligung des Mannes. Elf Jahre später befasst sich Gernot Bauer in der Wochenzeitschrift PROFIL (Ausgabe 41 vom 4. 10. 2014) in seinem Artikel „Wie die Politik die Probleme der Männer ignoriert“ mit diesem Thema. Neben der niedrigeren Lebenserwartung (Mann 78, Frau 83 Jahre) zählen laut Bauer die höhere Suizidgefahr, das größere Risiko arbeits- oder obdachlos zu werden, die höhere Inzidenz von Krebserkrankung, Herzinfarkten und Lungenerkrankungen sowie der geringere Anteil an den Hochschulen zu den Benachteiligungen des Mannes. Einige Zahlen: 2013 nahmen sich in Österreich 967 Männer das Leben, die Zahl der weiblichen Suizide betrug 324; 2013 waren 7% der Frauen aber 8,2% der Männer arbeitslos; 2012 betreute die Wiener Caritas etwa 9.000 obdachlose Menschen, darunter 6.500 Männer; zwei Drittel der Alkoholkranken in Österreich sind männlich. Wenn man bedenkt, wie eng Gesundheitsverhalten mit Bildung und Ausbildung verknüpft sind – Pflichtschulabsolventen weisen eine doppelt so hohe Sterblichkeit auf als Hochschulabsolventen (Wiener Männergesundheitsbericht 1999) – müssen folgende Fakten und Zahlen nachdenklich stimmen: 15-jährige Buben lesen laut PISA-Studie schlechter als Mädchen; europaweit sind zwei Drittel der Schulabbrechen Burschen, 2012 besuchten 7.367 Buben eine Sonderschule, aber nur 4.467 Mädchen; knapp die Hälfte aller Mädchen eines Jahrgangs macht Matura, aber nur 34% der Buben, und nur 40% aller Universitätsabsolventen sind Männer.
MÄNNERGESUNDHEITSBERICHTE
Der 1. Männergesundheitsbericht (https:// www.wien.gv.at/gesundheit/) wurde 1999 in Wien präsentiert, verfasst von den Professoren Dr. Anita Rieder und Dr. Michael Kunze, Institut für Sozialmedizin, Medizinische Universität Wien. Sie kamen zu folgenden Ergebnissen: Über 50% der Männer sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Männer haben ein höheres Risiko an Krebs zu sterben, z.B. bei Darmkrebs ist das Risiko für Männer doppelt so groß. Zu den Ursachen für die niedrige Lebenserwartung (1999 in Wien 73 Jahre) der Männer zählen Unfälle, Alkoholkonsum ist die häufigste Ursache für die männliche Osteoporose, die bis 2040 rapide ansteigen wird. Aufgrund der demografischen Entwicklung werden die Alterserkrankungen des Mannes, wie Prostatahypertrophie, Prostatakarzinom, Osteoporose, Inkontinenz und Demenzerkrankungen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Harninkontinenz betrifft etwa ein Drittel der Männer, vor allem ab dem 60. Lebensjahr. Urologische Probleme sind häufig auftretende Beeinträchtigungen der männlichen Gesundheit. Bis zu 90% der Männer ab dem 50. Lebensjahr geben urologische Probleme an, zwei Drittel fühlen sich dadurch erheblich beeinträchtigt.
Der 1. Deutsche Männergesundheitsbericht (www.maennergesundheitsbericht.de) ist der jüngste im deutschsprachigen Raum, der in mehreren Kapiteln die verschiedenen Aspekte der männlichen Gesundheit wie die in der Arbeitswelt oder jener der unterschiedlichen Lebensabschnitte wie Jungengesundheit oder älterer Mann beleuchtet. Der Fokus des Männergesundheitsbericht 2013 ist die psychische Gesundheit. Auch der Bericht 2010 kommt zu einem traurigen Ergebnis.
Frau Prof. Dr. Doris Bordele, Gesundheitswissenschaftlerin der Uni Bielefeld, stellt fest, dass zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage von Männern die vorzeitige Sterblichkeit von Männern an Lungenkrebs, Hypertonie, ischämischen Herzerkrankungen und zerebrovaskulären Erkrankungen gesenkt werden muss. Außerdem gilt es das Gesundheitsverhalten der Männer, z.B. im Hinblick auf die Vorsorgeuntersuchung zu beeinflussen. Männer, und nicht nur Frauen, muss ein spezieller Zugang zur Gesundheitsförderung ermöglicht werden.
In Bezug auf den alternden Mann ergänzen PD Dr. Kurt Seikowski und Prof. Dr. Uwe Paasch vom Bereich Andrologie der Klinik für Dermatologie der Uni Leipzig, Deutschland, dass es das Ziel der Männergesundheitsprävention sein muss, ein zeitgemäßes Männerbild zu entwickeln. Dabei geht es um vielfältige Fragestellungen hinsichtlich der Gesundheitsrisiken des alternden Mannes, wie Stress, Arbeit, Gewalterfahrungen, Ernährung, Rauchen, Alkohol, oder männerspezifisches Burn-out, aber auch um die Herausstellung positiver Aspekte des Älterwerdens. Dabei wird die Zukunft zeigen, ob den „beratungsresistenten Gesundheitsidioten“ noch zu helfen ist. Gunter Neubauer und Dr. Reinhard Winter vom Sozialwissenschaftliches Institut Tübingen konstatieren, dass sich die gesundheitliche Lage von Jungen etwa durch Unfälle, bei der psychischen Gesundheit (Suizid, siehe Abb. 1) und beim Hodenkrebs als bedenklich zeigt. In diesem Sinn wäre ein Jungengesundheitskurs durch Förderung von Forschung, Evaluation und Jungen-spezifische Prävention anzustreben. Als Perspektiven entwarfen die Verfasser des 1. Deutschen Männergesundheitsberichts sechs Schwerpunkte für die Weiterentwicklung der Männergesundheit:

  1. Intensivierung der Männergesundheitsforschung
  2. Präventionsangebote müssen besser an den Bedürfnissen der Männer ausgerichtet sein
  3. Männermedizin muss weiter etabliert werden
  4. Der hohe Standard in der medizinischen Versorgung muss erhalten bleiben
  5. Männerspezifische Gesundheitsrisiken sind weiter zu reduzieren
  6. Es geht nicht nur darum, die Lebensquantität zu steigern, es geht mehr noch um eine Verbesserung der Lebensqualität

MÄNNERGESUNDHEIT 2020

Diese Kapitelüberschrift wirft als erstes die Frage auf, ob die Jahreszahl nicht zu optimistisch gewählt wurde. Wenn man die oben zitierten Männergesundheitsberichte, Wien 1999 und Deutschland 2010, mit seinen Ergebnissen und Forderungen mit der heutigen Situation vergleicht, so stellt man fest, dass sich in den letzten 16 Jahren nur wenig bewegt und geändert hat. Was aber bei beiden Berichten auffällt, ist, dass nicht der Versuch gemacht wird, Männergesundheit zu definieren. Diese allein auf die Erkrankungen der Sexualorgane, als auf Urologie und Andrologie, zu beschränken, greift zu kurz. Dr. Peter Kölln, Arbeitsmediziner aus Bremen, verwendet in seinem 2014 im Universum Verlag erschienen Buch „Männer im Betrieb(s) Zustand! Der Praxisratgeber zur Männergesundheit“ die vom Onlinelexikon Wikipedia erstellte Zusammenfassung von Expertendefinitionen: „Männergesundheit definiert sich und grenzt sich ab 1.) über spezifische körperliche Organe (Penis, Ho- den, Prostata usw.), 2.) über spezifische soziale und kulturelle Bedingungen des Aufwachsens und Lebensvollzugs von Jungen und Männern (Jungesein, Mannsein) sowie (teilweise daraus resultierend) 3.) über den genderbezogen spezifischen Umgang mit Gesundheit (Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit).“ Kölln weiter: „In der Kürze trifft diese Definition ziemlich gut. Sie zeigt, dass es bei der ‚Männergesundheit‘ um mehr geht als um Urologie. Denn im alltäglichen Sprachgebrauch wird ‚Männergesundheit‘ derzeit meist mit Urologie gleichgesetzt. Als ginge es beim Mann ausschließlich um Themen rund um die Sexualität und das männliche Geschlechtshormon Testosteron. Doch schon die Wikipedia-Definition zeigt, dass der Themenkomplex Männergesundheit mehrere Dimensionen aufweist.“ Welche Fachrichtung soll nun aber als Männerarzt „den Themenkomplex Männergesundheit“ mit seinen verschiedenen Dimensionen abdecken. Es müsste sich um die legendäre „eierlegende Wollmilchsau“ handeln. Ein Ansatz wäre die Schaffung eines Curriculums „Männerarzt“ für Urologen/ Androloge mit Ausbildung in Kardiologie, Endokrinologie, Adipositastherapie, Sport und Bewegung sowie in der Erkennung von psychischen Problemen (Erkrankungen) und Burn-out. Eine andere Überlegung wäre die Schaffung von interdisziplinären Männergesundheitszentren (vgl. MedWelt 1/2015, 36–38), die mit Allgemeinmedizinern, Fachärzten für Innere Medizin, Chirurgie, Urologie, Dermatologie und Orthopädie besetzt sind, um den oft noch berufstätigen Mann das Warten in vollen Wartezimmern und Terminen bei verschiedenen, örtlich getrennten Ärzten zu ersparen
Zur Förderung der Gesundheit und Verbesserung der Prävention müssen für den Mann geeignete Angebote entwickelt werden. Ein besonderer Schwerpunkt soll dabei auf bubenspezifischen Angeboten liegen, um frühzeitig das Gesundheitsverhalten von Buben zu unterstützen. Die zentralen Themen sind hier Übergewicht, Risikoverhalten, ADHS, Depression und Sexualität. Männergesundheit fängt bei der Bubengesundheit an. Männergesundheit und männliches Gesundheitsverhalten sind also ein vielschichtiger Themenkomplex, der nicht erst mit 45 (Beginn der Prostatakrebsvorsorge) sondern in der Kindheit beginnt, und wie dargestellt, nicht nur die Prostata und andere männliche Sexualorgane betrifft, sondern auch jene Organsysteme einschließt, bei denen der Mann aufgrund genetischer und biologischer Faktoren stärker von Erkrankungen betroffen ist. Dabei muss auch Rücksicht auf das männliche Selbstbildnis und sein Rollenverständnis genommen werden. Die auseinander klaffende Schere der Lebenserwartung zwischen Frau und Mann muss geschlossen werden.

(Den Orginalartikel im PDF-Format finden Sie am Ende der Seite zum Herunterladen.)

Dr. MICHAEL EISENMENGER
Präsident der Österreichische Gesellschaft für Mann und Gesundheit
2460 Bruck an der Leitha

www.mann-und-gesundheit.at

Abbildung 1: Suizidrate Österreich 2011

Tabl. 1 Todesrate von Männern und Frauen aufgeschlüsselt nach den Haupttodesursachen

Tabl. 2 Das Wegwerf-Geschlecht

Anhänge herunterladen: Artikel Ärztekrone 06/2015